Design Thinking – nur ein Buzzword für große Innovationsprojekte oder vielleicht doch nützlicher für den ganz normalen Projekt-Wahnsinn als Sie denken?
“Nutzerzentrierung” oder auch “user-centered design” ist irgendwie in aller Munde, aber wird es tatsächlich auch gelebt? Vielfach liegt der Fokus eher darauf, Prozesse zu digitalisieren, Daten zu strukturieren und möglichst viele Funktionen bereit zu stellen. Und wenn wir ehrlich sind, lässt sich die Frage “Wer wollte das eigentlich so?” nur allzu oft mit “Na, der Auftraggeber!” beantworten.
Und welche Rolle spielt in dem Prozess der Endnutzer der Software, App oder Plattform? – “Den kennen wir seit 20 Jahren. Wir wissen, was unsere Kunden wollen!”
Diesen Satz haben Sie sicher ebenfalls mehr als einmal von einem Auftraggeber gehört, oder?
Was passiert aber, wenn wir uns darauf verlassen, dass der Auftraggeber schon genau weiß, was seine Kunden und Nutzer wollen?
Mögliche Konsequenzen haben Sie vielleicht schon einige Male miterleben müssen:

  • Die Software-Lösung wurde nicht gut angenommen, die Nutzer sind unzufrieden
  • Viele Tickets zu Fehlern und Änderungswünschen kommen auf
  • Das Projekt wird x-mal so teuer, wie ursprünglich geplant
  • Von dem hunderte Seiten langen Pflichtenheft wurden am Ende nur 10% ausgeliefert, weil der Rest komplett am Nutzer vorbei entwickelt und schlussendlich verworfen wurde

Das lässt sich jedoch durch eine nutzerzentrierte Vorgehensweise im Projekt vermeiden.
Die folgenden Schritte helfen dabei. Die Prinzipien stammen aus dem Design Thinking, allerdings wird hier kein “klassischer Design Thinking Workshop” durchgeführt. Denn die dahinterstehenden Gedanken, Projekte anzugehen “wie ein Designer” kann jedem IT-Freelancer im Projektalltag helfen. Vielleicht können Sie den einen oder anderen Impuls mit in Ihr Projekt nehmen und Ihren Auftraggeber so bei der Entwurfsphase unterstützen.

Schritt 1: Nutzergruppen identifizieren als Fundament guter Usability

Bereits zu Beginn des Projektes sollten Sie wissen, wer genau die Nutzer und Nutzergruppen der Software, App oder Plattform sind. Denn warum gibt es das Projekt? Weil wir Lösungen für Menschen bauen. Und diese Menschen müssen wir erst mal kennen lernen.
So können Sie dabei vorgehen:

  1. Schreiben Sie die Nutzer und Nutzergruppen auf, die Ihnen bekannt sind. Fragen Sie im Team, ob es sonst noch Nutzergruppen gibt – und seien diese noch so klein.
  2. Finden Sie für jede Nutzergruppe sechs mögliche Unterscheidungsmerkmale zwischen den tatsächlichen Nutzern innerhalb dieser Gruppe. Zum Beispiel bei der Nutzergruppe “Frauen” könnte man unterscheiden nach Familienstand, Mutter-Rolle, Berufstätigkeit usw.
  3. Streichen Sie alle Unterscheidungsmerkmale, die nichts mit der Software-Lösung zu tun haben könnten. Überlegen Sie dabei ganz genau, ob ein bestimmtes Merkmal nicht doch eine Auswirkung auf die Nutzung hat und schreiben Sie dazu, welche.
  4. Stellen Sie dann aus den Unterscheidungsmöglichkeiten weitere Nutzergruppen zusammen. Wenn Sie also z.B. den Familienstand als relevant eingestuft haben, wären mögliche Nutzergruppen entweder die klassischen, offiziellen Familienstände wie “verheiratete Frauen”, “ledige Frauen”, “verwitwete Frauen” usw.
    Möglich wäre aber auch eine Unterscheidung in “Verheiratete Frauen” und “Nicht-Verheiratete Frauen”, wenn es im Zusammenhang mit der Software-Lösung sinnvoller erscheint.

Wenn Sie Ihre Nutzergruppen gefunden haben, stellen Sie sie in einer Baumstruktur dar, ähnlich wie ein Organigramm. Das gibt Ihnen den nötigen Überblick über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Nutzergruppen.
Im nächsten Schritt schauen Sie sich dann etwas genauer die (zukünftigen) Nutzer der Software, App oder Plattform an.

Schritt 2: Nutzerbedürfnisse analysieren um sich auf die richtigen Dinge zum richtigen Zeitpunkt zu fokussieren

Die Priorisierung von Tätigkeiten und umzusetzenden Funktionen ist eine der schwierigsten Aufgaben im Projekt: Woher weiß ich, was zuerst umgesetzt werden soll? Was ist wichtig? Was sind die kritischen Funktionen? Was kann auch später gemacht werden?
Hier ist wichtig, dass Sie sich im Projekt an Bewertungs-Kriterien für die Priorisierung orientieren. Oft reichen die Projektziele jedoch nicht aus, um wirklich sinnvoll zu priorisieren, weil diese auf einer viel gröberen Ebene sind und nur die Richtung weisen können.
Auf der Detailebene sind andere Dinge entscheidend.
Stellen Sie sich für die einzelnen Nutzergruppen folgende Fragen:

  • Welches sind die Aufgaben, die der Nutzer erledigt?
  • Welche Probleme hat der Nutzer im (Arbeits-)Alltag?
  • Wie arbeitet der Nutzer aktuell an seinen Aufgaben und was gefällt ihm daran?
  • Wo wünscht sich der Nutzer Unterstützung?

Um die Analyse zu erleichtern, kann man die Methode der “Persona” verwenden. Hierfür wird ein potenzieller Nutzer erdacht und mit Namen, Alter, Geschlecht usw. versehen. Nun hat man eine konkrete Person im Kopf. Für diese Person beantworten Sie dann die oben genannten zu den Aufgaben, den Problemen und seinen Wünschen.
Je nachdem, wie kritisch der Nutzer für den Erfolg der Software, App oder Plattform ist, lohnt sich eine mehr oder weniger detaillierte Analyse. Um weiter in die Tiefe zu gehen, bietet das Design Thinking zahlreiche Methoden und Werkzeuge, die den Analyseprozess unterstützen.

Schritt 3: Erkenntnisse richtig nutzen und Anforderungen hinterfragen

Sie kennen das sicher: In kleineren Projekten sind Anforderungen und Konzeption noch überschaubar. Ist das Projekt jedoch größer, wird es schnell unübersichtlich. Die Folge: Es schleichen sich schnell Widersprüche ein, einige Funktionen sind inkonsistent oder werden nicht zu Ende gedacht.
Als IT-Freelancer sind Sie bestrebt, bestmögliche Arbeit zu leisten. Ist am Ende des Auftrages die Hälfte Ihrer Arbeit für die Tonne, ist das nicht nur für Sie ärgerlich, sondern auch für Ihren Auftraggeber.
Um dem entgegenzuwirken, können Sie sich bei der Umsetzung immer wieder die Frage stellen: Passt das, was ich da gerade umsetze, zu den Projektzielen und den Nutzern? Ist das Konzept stimmig? Fokussieren wir uns gerade auf die falschen Dinge?
Wenn Sie sich regelmäßig die Ergebnisse der Nutzeranalyse, wie zum Beispiel die Personas zur Hand nehmen, wird es Ihnen leichter fallen, Aufgabe zu priorisieren und einen wertvollen Beitrag in Projektmeetings zu leisten. Denn der Projekterfolg hängt von jedem einzelnen ab, mag seine Rolle noch so klein erscheinen.
In diesem Sinne: Denken Sie (etwas mehr) wie ein Designer.

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Als Wirtschaftsinformatikerin und IT-Beraterin unterstützt Franziska Toth Start-Ups, KMUs und Software-Agenturen dabei, mit einer einfachen und strukturierten Vorgehensweise Konzepte für Software, Apps und Plattformen zu entwickeln, die Kunden wie Nutzer begeistern. Dabei verbindet sie klassisches Requirements Engineering mit Methoden des Design Thinking, um nutzerzentriert zu smarten Lösungen zu kommen. Sie unterstützt ihre Kunden vor allem in der Entwurfsphase mit Workshops und Coaching. Sie arbeitet seit vielen Jahren als IT-Beraterin für die unterschiedlichsten Kunden und Branchen und begleitete dabei oft Software-Projekte von der Idee bis zur finalen Auslieferung. Heute liegt ihr Fokus vorwiegend darauf, von der Idee zum fertigen Konzept zu gelangen.

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