Markus Kurth ist rentenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen und Obmann seiner Fraktion im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Er war von 1997 bis 1998 als selbständiger Politikberater tätig.
Carlos Frischmuth ist Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes für selbständige Wissensarbeit e.V.
Michael Wowro ist Herausgeber des IT Freelancer Magazins.
Michael Wowro: Herr Kurth, die COVID-19 Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen haben Deutschland fest im Griff. Zahlreiche Selbständige berichten von Auftragseinbrüchen oder können im schlimmsten Fall ihr Geschäftsmodell gar nicht mehr ausüben.
Wie nehmen Sie die Situation wahr? Wo sehen Sie dringende Handlungsbedarfe?
Markus Kurth: Die Selbstständigen im Dienstleistungsbereich sind sicherlich eine der Gruppen, die am stärksten von den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie betroffen sind. Die Soforthilfen sind für besonders betroffene Selbständigengruppen wie zum Beispiel Künstler oder Musiker nicht ausreichend. Wir Grüne haben deswegen mehrere Anträge gestellt, um die so genannten Sozialschutz-Pakete I und II der Bundesregierung zu verbessern. Darin fordern wir unter anderem, die Soforthilfen für die Deckung des Lebensunterhalts zu öffnen. Für die nun beschlossene Ausweitung der Direkthilfen für Kleinbetriebe mit mehr als zehn Mitarbeitenden haben wir uns ebenfalls eingesetzt.
Die aktuelle Situation zeigt aber auch deutlich, wie wichtig der Schutz durch die Sozialversicherungen auch für Selbständige sein kann. Ich hielte es für sinnvoll, den Zugang zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung erheblich zu erleichtern. Wahltarife können es Selbständigen ermöglichen, abhängig von der Beitragshöhe einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu haben. Das ist sicherlich nicht für alle Freelancer eine Option, aber in schwankungsanfälligen Branchen eine Möglichkeit, den Grundsicherungsbezug zu vermeiden. Zudem setze ich mich seit Jahren für die flexible Einbeziehung der nicht anderweitig abgesicherten Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung ein. Diese hat gerade in Krisenzeiten durchaus handfeste Vorteile: Die Rendite ist solide sowie planbar. Und momentan greifen nicht wenige Selbständige ihre Rücklagen für das Alter an, manche müssen gar aufgeben. Die angesammelten Rentenversicherungsansprüche sind im Gegensatz zu frei verwertbaren Anlagen und privatem Vermögen auch im Falle einer Insolvenz pfändungssicher.
Carlos Frischmuth: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich im Bereich der selbständigen Wissensarbeiter – wie der IT-Selbständigen – die Auftragsrückgänge bisher in Grenzen halten. Oft arbeiten sie in Projekten, die in ihren strategischen Zielen langfristig ausgelegt sind und zudem haben viele selbständige Experten aufgrund guter eigener Kalkulationen und hohen Vergütungen entsprechende Reserven aufgebaut, um einige Monate ohne Beauftragung überstehen zu können.
Ist das nicht ein weiteres Zeichen dafür, dass hier stärker zwischen unterschiedlichen Selbständigen-Gruppen differenziert werden sollte?
Markus Kurth: Ein differenzierter Ansatz ist entscheidend für die Akzeptanz. Deswegen bin ich auch nicht für eine Pflichtversicherung in der Arbeitslosenversicherung. Allerdings: Eine Versicherungspflicht rührt schließlich aus dem Schutzbedarf. Das Vorhandensein prekärer Selbständigkeit kann eine Pflichtversicherung in der Rentenversicherung durchaus begründen. Auch ordnungspolitisch gibt es gute Gründe für eine Versicherungspflicht in der Rentenversicherung. Es ist nicht einzusehen, dass die Allgemeinheit über die Grundsicherung im Alter indirekt Geschäftsmodelle mitfinanziert, die eigentlich nicht tragfähig wären.
Michael Wowro: Herr Kurth, in Ihrer Bundestagsrede Mitte Dezember (am Ende dieses Interviews als Video eingebettet) und auch im Antrag ihrer Fraktion „Mit Sicherheit in die Selbständigkeit – Eine bessere Alterssicherung, mehr Rechtssicherheit und die freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbständige anpassen“ (BT-Drucksache 19/17133) fordern Sie, dass „Selbstständige mit projektbasierten Aufträgen vor Bürokratiehürden und nachträglichen Statusaberkennungen geschützt werden müssen“. Wie wollen Sie das erreichen?
Markus Kurth: Das so genannte Statusfeststellungsverfahren wird gegenwärtig als ungenau und im Hinblick auf den Ausgang als schwer kalkulierbar wahrgenommen. Wenn gleichartige Aufträge in der Praxis im Ergebnis der Prüfverfahren unterschiedlich bewertet werden, ist das auch nicht nachvollziehbar und führt zu erheblicher Rechts- und Planungsunsicherheit. Das will ich ändern.
Im Gesetz sind die Kriterien zur Abgrenzung relativ allgemein formuliert. Im Antrag stellen wir deswegen einen besser ausdifferenzierten Katalog auf, der die konkrete Umsetzung der Prüfung regelt. So könnten die Kriterien schneller und eindeutiger angewendet werden. Zudem halte ich es für sinnvoll, wenn etwa Menschen im vergangenen Jahr ausschließlich selbstständig tätig waren, dies für die folgenden Prüfverfahren zu berücksichtigen. Auch soll die Statusfeststellung stärker tätigkeitsbasiert statt auftragsbasiert erfolgen.
Carlos Frischmuth: Sie waren selbst einmal für kurze Zeit Solo-Selbständiger. Wie hat Sie diese Zeit und Ihre Einstellung zur Selbständigkeit geprägt?
Markus Kurth: Nun ja, das war eher aus der Not geboren. Die freie Zeiteinteilung und die Gestaltungsfreiheit in der Sache haben mir am besten gefallen. Allerdings ist die Tätigkeit als Abgeordneter auch eine Art von Selbständigkeit. Natürlich nicht identisch, aber es gibt so einige Strukturanalogien. In meinem Beruf als Politiker habe ich auch mit Selbständigen zu tun, ohne deren Unterstützung – zum Beispiel in der IT – ich nicht arbeiten könnte.
Michael Wowro: Die Innovationskraft der Unternehmen ist ein wichtiger Motor um die Krise zu überwinden. Für alle Beteiligten (dem Einsatzunternehmen, dem Projekt- und Personaldienstleister und dem Freelancer) ist es daher gerade jetzt wichtiger denn je, dass ein Projekteinsatz schnell, unbürokratisch und rechtssicher erfolgen kann. Ihre Partei fordert u.a. die Beschleunigung des Statusfeststellungsverfahrens bei der Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung. Wie wollen Sie das erreichen und wie stehen Sie zu den Forderungen vieler Selbständiger, bei Erfüllung gewisser Kriterien wie z.B. Honorarhöhe und nachgewiesener Altersvorsorge das Statusfeststellungsverfahren gänzlich abzuschaffen? (Quelle).
Markus Kurth: Durch die Schärfung der Kriterien, ohne die Gesamtbetrachtung dabei zu ersetzen, soll die Statusprüfung transparenter und schneller werden. Die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung hat hierfür die Kompetenz.
Aus der Community der Selbstständigen, insbesondere der der projektbasierten Wissensarbeiter, erreicht mich immer wieder die Forderung, das Statusfeststellungsverfahren außer Kraft zu setzen. Ich antworte darauf gerne in Verbindung mit der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Wäre die Vorsorgepflicht gesetzlich verankert, wären die allermeisten Selbstständigen sozialversichert. Somit wären weniger Prüfverfahren zum Schutz vor Scheinselbstständigkeit geboten, da die Mitgliedschaft in der Sozialversicherung der Regelfall wäre. Bei den Selbstständigen, die dann zusätzlich über ein Einkommen bzw. eine gewisse Honorarhöhe verfügen und wirtschaftlich unabhängig sind, könnte ein Statusfeststellungsverfahren entfallen. Dahingehend würde, meiner Einschätzung nach, auch die Deutsche Rentenversicherung mitgehen.
Carlos Frischmuth: Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass nicht anderweitig abgesicherte Selbständige in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden sollen. Gleichzeitig sprechen Sie sich für Übergangsregelungen aus. Wie könnten diese aussehen? Und welche alternativen Formen der Altersvorsorge halten Sie für praktikabel?
Markus Kurth: Ich halte es für einen wichtigen Schritt, Selbstständige, die nicht anderweitig abgesichert sind, in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Natürlich ist dabei Flexibilität geboten, etwa bei der Beitragszahlung oder in Bezug auf Karenzzeiten in Phasen der Gründung. Schwankende Einkommen oder Restrukturierungen gehören nun mal zur Welt der Selbständigkeit dazu. Entsprechend flexibel müssen die Regeln der Pflichtmitgliedschaft für Selbständige gestaltet sein. Dazu gehört auch, dass bei Einführung einer Versicherungspflicht langjährige oder ältere Selbstständige, die bereits durch eigenes Vermögen oder eine private Kapitalmarktvorsorge anderweitig vorgesorgt haben, dies auch weiter tun können und nicht verpflichtend in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert werden. Wir schlagen in unserem Antrag eine Altersgrenze mit großzügiger Stichtagesregelung vor, z.B. bei 40 Jahren. Das hieße: Ein 42-jähriger selbständiger Programmierer könnte wie bereits heute freiwilliges Mitglied in der gesetzlichen Rentenversicherung werden. Angesichts des breiten Leistungsspektrums von der Reha über die Erwerbsminderungsrente, den familienpolitischen Leistungen bis hin zur klassischen Rente wäre das nicht die schlechteste Entscheidung. Aber er wäre aufgrund der Altersgrenze nicht von der Pflichtmitgliedschaft erfasst. Damit sind unverhältnismäßige Eingriffe in langjährig bestehende Altersvorsorge ausgeschlossen.
Alternative Vorsorgeformen, sprich: Kapital-und Immobilienanlagen, sind mehr mit Unsicherheit behaftet denn je. Immerhin stehen uns als Gesellschaft große Veränderungen bevor. Ich denke dabei an die Ökologisierung der Wirtschaft oder den Demografischen Wandel. Sowohl die Kapitalmarktentwicklung als auch die Immobilienpreisentwicklung wird in ungekannter Weise von diesen Wandlungsprozessen beeinflusst sein.
Michael Wowro: Könnte durch die geplante verpflichtende Altersvorsorge das Statusfeststellungsverfahren nicht gänzlich wegfallen?
Markus Kurth: Wenn die genannten Voraussetzungen erfüllt sind, ja. In Gänze jedoch nicht. Ich halte an der Wichtigkeit des Statusfeststellungsverfahrens wegen seiner Schutzfunktion zur Vermeidung von Scheinselbstständigkeit fest.
Carlos Frischmuth: Ihr Vorschlag einer Positivliste zur Beurteilung echter Selbständigkeit dürfte bei vielen selbständigen Wissensarbeitern wie den IT-Freelancern auf Anklang stoßen. Auch die Vereinheitlichung der gesetzlich formulierten Abgrenzungskriterien im Sozial-, Arbeits- und Steuerrecht ist zu begrüßen.
Aber brauchen die Entscheider in den Clearingstellen der DRV nicht auch mehr Einblick und Verständnis in die Praxis?
Markus Kurth: Die Verantwortlichen in der Clearingstelle hatte ich schon einmal zu einem internen Fachgespräch eingeladen. Aber ein Austausch zwischen Clearingstelle und Selbständigen – persönlich und regelmäßig – würde wahrscheinlich zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und Konfliktzonen verringern. Ich werde mal darüber nachdenken, wie solch ein Austausch von statten gehen könnte.
Carlos Frischmuth und Michael Wowro: Herr Kurth, vielen Dank für das Gespräch!
Schauen Sie sich die Bundestagsrede (Dezember 2019) von Markus Kurth zu den Themen Bürokratiehürden und nachträglichen Statusaberkennungen an:
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Ein Kommentar
„Ein 42-jähriger selbständiger Programmierer könnte wie bereits heute freiwilliges Mitglied in der gesetzlichen Rentenversicherung werden. Angesichts des breiten Leistungsspektrums von der Reha über die Erwerbsminderungsrente, den familienpolitischen Leistungen bis hin zur klassischen Rente wäre das nicht die schlechteste Entscheidung. Aber er wäre aufgrund der Altersgrenze nicht von der Pflichtmitgliedschaft erfasst. Damit sind unverhältnismäßige Eingriffe in langjährig bestehende Altersvorsorge ausgeschlossen.“
Was ist mit Rechtsanwälten, Apothekern, Ärzten und anderen Ständen, die eigene Versicherungen betreiben. Die müssten auch in die Pflichtmitgliedschaft. Und was hat der Selbstständige davon, der nach etlichen Jahren jetzt zur Zwangsmitgliedschaft herangezogen wird? Seine Rentenbeiträge würden ihm keine ausreichende gesetzliche Rente garantieren. Seien wir doch ehrlich: Hier sollen lediglich Beitragszahler generiert werden.