New Work, Homeoffice und Co. führen zu einer stetigen Vermischung von Privat- und Berufsleben. Für über ein Drittel der Freelancer ist eine der größten Herausforderungen klar: Die Trennung der beiden Bereiche (lt. Freelancer Kompass 2022).

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf scheint kein großer Stressfaktor unter Freelancern zu sein: Nur etwa ein Zehntel der Befragten der Freelance.de Marktstudie geben diesen Zustand als Problem an.

Quelle: freelance.de Marktstudie

Das lässt nahelegen, dass Freelancer vor allem in Ihrer Ich-Beziehung Probleme mit dem Work Life Blending haben.

Man möchte ja „overdelivern“, dazu gehört dann auch mal die Erreichbarkeit außerhalb der eigenen Arbeitszeiten…

Hier mal einen Rat geben, da mal ein Stück Code optimieren….

Aber ist eine strikte Trennung überhaupt nötig?

Für viele Freelancer ist ihre Selbständigkeit eine Berufung. Eine klare Entscheidung für ein freies Arbeitsleben. Spannende Projekte, steile Lernkurve… Und der Traum von Erfüllung, Status und finanzieller Unabhängigkeit.

Die selbstbestimmte Arbeit wird als sinnstiftend empfunden. Durch die Identifizierung mit den dahinterstehenden Werten ist die eigene Identität oft sehr mit dem Weg des Freelancings verknüpft.

Bei aller Identifikation und Selbstbestimmung bleibt die Frage:

Wie kümmere ich mich als Freelancer um meine mentale Gesundheit?

Dieser Frage gehen wir gemeinsam mit LinkedIn Top Voice & Mental Health Consultant Alan Herweg auf den Grund!

Work Life Blending vs Work Life Balance
Harter Cut oder weiche Grenzen

Sind Menschen glücklicher, die die Vermischung von Alltag und Beruf zulassen, oder empfiehlt sich eine klare Trennung?

Alan Herweg: „Diverse wissenschaftliche Betrachtungen zeigen wenig überraschend eines: Pauschale Aussagen funktionieren wie an vielen anderen Orten nicht. Zu individuell sind die Innenwelten (sprich Persönlichkeit und Werte der Freelancer) sowie die äußeren Faktoren (etwa demografische Merkmale, Arbeitsbedingungen, weitere Lebensumstände).

Es scheint aber naheliegend, dass jeder seine gesunde Balance aus passionierter Identifikation und distanzierter Gelassenheit finden darf.

Beide wirken dabei gleichberechtigt zusammen: Empfinde ich mein Tun als sinnhaft und übe es gerne aus, komme ich eher in den Flow und habe das Gefühl, etwas zu bewegen.

Bin ich gleichsam ergebnisoffen, kann abschalten und die Arbeit auch einmal unvollendet ruhen lassen, behalte ich mir ein Leben über die Profession hinaus und vernachlässige die anderen Grundpfeiler eines zufriedenen Lebens nicht.

Die Akkus sollte man auch aufladen, bevor sie bereits komplett im roten Bereich sind! Womöglich kann man sich diese Pausen öfter erlauben, als man denkt.

Ansonsten kann die richtige Kommunikation (auf Augenhöhe!) mit den Auftraggebern hier helfen. Sowohl vorab beim Besprechen der erwarteten Leistung [was sind die konkreten, realistischen Projektziele, was ist der Zeitrahmen?] sowie generell das Etablieren einer Kultur, in dem der Freelancer als Mensch & nicht als Maschine gesehen wird.

Gemäß der Gewaltfreien Kommunikation (Ultrakurzform: Die Bewertung getrennt von der Beobachtung kommunizieren; Wünsche statt Vorwürfe formulieren) kann man übrigens vermutlich mehr Verständnis erwarten, wenn man ebenso Verständnis dafür kommuniziert, dass es ärgerlich sein kann, dass sich das Projekt nun ein wenig verschiebt.“

Was würdest du Freelancern raten, um sich schon präventiv vor Burnout und Co. zu schützen?

Alan Herweg: „Ein großes Thema, was wiederum spezifische Lösungen für individuelle Probleme braucht. Ich möchte also gerne auf die essentiellen Allgemeinplätze pochen:

Ja, womöglich haben wir das alles schon einmal gehört und es klingt so furchtbar nett und einleuchtend. Aber ich lade ein die folgenden Sätze auch einmal ehrlich mir selbst gegenüber zu ergründen mit der Frage: Setze ich das aktuell auch wirklich um?

Also etwa eine ehrliche Beobachtung des eigenen Ist-Zustandes, ein Abgleich mit dem Soll-Zustand und eine Evaluation, inwiefern meine Bedürfnisse erfüllt werden und ich gerade schlichtweg gerne meinen Alltag lebe.

Sendet mein Körper mir Warnsignale? Krankheiten, Erschöpfung oder Drastischeres? Weiß ich wirklich wie es mir geht? Oder bin ich bereits in Automatismen verfallen? Selbstbeobachtung ist die Bedingung für eine Selbstreflexion.

Durch aufrichtige Selbstreflexion kann Selbstwirksamkeit entstehen: Das Wissen um meine Ressourcen und meine Fähigkeiten – aber auch, dass diese gerade erschöpft sind. Ganz zentral dazu, nicht von Gedanken zur Stigmatisierung ablenken lassen:

„Es ist schwach, mein Scheitern einzugestehen…“,

„Wie stehe ich denn dann da?“,

„Ich bin doch nicht verrückt!“ – et cetera…

Es darf hier wirklich ganz vorurteilsfrei nur um die eigene Innenwelt gehen und um das, was wirklich dienlich für uns wäre. Hilfe annehmen ist jederzeit möglich.“

Gibt es eine Art strategische Herangehensweise an das Thema Mental Health?

Alan Herweg: „In meinen Augen schon. So wie viele von uns ihren Körper nicht wirklich steuern und ausreizen können, haben wir ebenso wenig gelernt, uns in unserem eigenen Kopf zurecht zu finden.

Ich halte es für wesentlich und das ist sicherlich auch mein persönlicher Ansatz unter ganz vielen anderen, die eigene Hard- und Software von Gehirn und Geist ganz generell zu verstehen:

  • Was ist eigentlich ein Gedanke und wie ergründe ich ihn?
  • Wie fühle ich ein Gefühl ohne mich davon übermannen zu lassen?
  • Warum habe ich überhaupt eine Stimme im Kopf und wie begegne ich ihr?

Somit sich selbst in individuellen Alltagssituationen zu verstehen:

  • Warum trifft mich dieser konkrete Gedanke so?
  • Warum drücke ich dieses aktuelle Gefühl weg?
  • Weiß ich wirklich, ob meine innere Stimme just in diesem Moment richtig liegt?

Und dadurch letztlich Mental Health für sich herstellen zu können. So werden wir zum Spezialisten für uns selbst. Ich persönlich arbeite gerne dort, wo sich die moderne, rationale Neurowissenschaft und die existentielle Philosophie einig sind.

Alles ohne Räucherstäbchen und durch direkte Selbsterfahrung unmittelbar erlebbar.“

Freelancing & Krankheit

„Ich bin ja nur erkältet. Reicht ja wenn ich keinen Sport mache. Arbeiten muss ja.“

Wenn Freelancer nicht arbeiten, verdienen sie kein Geld. Vor allem bei der Fraktion, die vertraglich mit Stundensätzen abrechnet. Also einfach rein in den Quark. Hustle Culture lässt grüßen….

Sollte ich mich dazu entscheiden nicht zu arbeiten: Die Verpflichtung gegenüber auftraggebendem Unternehmen, sowie die eigene Arbeitsethik hinterlässt ein flaues Gefühl im Magen – das schlechte Gewissen.

So oder so… Die Krankheit geht mit der Zeit vorüber. Also… alles gut?

Wie schaffe ich es als Freelancer meine körperliche und geistige Gesundheit nicht zu vernachlässigen? Wann muss ich die Grenze setzen?

Alan Herweg: „Da gibt es vor allem zwei Routen:

Der Blick auf die eigene Innenwelt und die Perspektive von außen, vom mich umgebenden System.

Räucherstäbchenschwenkende Perlenesoteriker lassen verlauten, dass alles einfach nur in uns stattfindet.

Ernüchterte Weltverdrossene finden wiederum, dass die grausam-dystopische Welt dort draußen alleinig unser Glück verhindert.

Lass uns den Mittelweg nehmen! Natürlich muss auf finanzielle Rahmenbedingungen und die Erhaltung des Lebensstandards geguckt werden. Das erfordert womöglich unbequeme Arbeitseinsätze.

Doch gleichzeitig können nur wir selbst wissen, wie es uns gerade wirklich geht – und ob es das gerade wert ist, über die eigenen Ressourcen hinauszuarbeiten. Ist meine Existenz tatsächlich so gefährdet, dass ich mit meinem Reservekraftstoff fahren muss? Es ist vermutlich eine individuelle Entscheidung:

Was ist mir wichtiger – das Projekt zu beenden, beruflich erfolgreich und standfest zu sein? Oder doch eher die eigene Gesundheit zu achten, auch wenn es mit finanziellen Einbrüchen verknüpft ist?

Vielleicht gibt es auch einen Kompromissweg: Man darf sich in solchen Situationen in kleinsten Häppchen voran bewegen, nur weniger energiezehrende Arbeiten verrichten oder lediglich solche, auf die man trotzdem Lust hat. Zu 100% performen kann man dann wieder, wenn die Krankheit ausgestanden ist.

Sei bitte ehrlich und einfühlsam mit dir selbst – so, wie du es mit deinem besten Freund auch wärst. Eine nüchterne Bestandsaufnahme und ein Blick auf den eigenen Lebensentwurf kann helfen.“

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Nach teenagerlichen Sinnfragen zur Existenz studierte ich im Bachelor sowie Master Psychologie & Kommunikation. Währenddessen: jahrgangsbeste Abschlussarbeit, zwei publizierte Fachbeiträge & zig geleitete Seminare. Neben fundiertem Allgemeinwissen zu Mental Health [= Philosophie, Neurowissenschaft, Spiritualität & Psychologie] bin ich zertifizierter Entspannungscoach & Mental Health-Ersthelfer. Meine Passion: meinen gebündelten & geordneten Wissensvorsprung der letzten 10 Jahre mit meinen Klienten zu teilen!

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