Mehrere Projekte gleichzeitig? Das mache ich immer wieder. Scrum Master oder Scrum Coach für Kunde Nummer Eins, Projekt-Audits für Kunde Nummer Zwei, gelegentliche Workshops für Kunde Nummer Drei. Ich selber halte das für hochgradig sinnvoll, stoße aber mit diesem Vorgehen immer wieder auf Unverständnis. Fast alle IT-Freelancer die ich kenne verkaufen sich in Vollzeit an einen Kunden und arbeiten dann exklusiv für ihn. Umgekehrt ist das auch genau die Erwartungshaltung die ich bei vielen Unternehmen kennengelernt habe: der Freelancer soll bitteschön fünf Tage die Woche mitarbeiten, nach Möglichkeit sogar vor Ort. Wer weniger verfügbar ist wird misstrauisch beäugt, in vielen Fällen ist es sogar ein K.O.-Kriterium – wer sich nicht voll und ganz zur Verfügung stellt wird gar nicht erst in das Projekt hereingeholt.
Dieses Voll-und-Ganz-Denken mag zwar die Regel sein, nach meiner bescheidenen Ansicht ist es aber falsch und schädlich, und zwar für beide Seiten. Zunächst aus naheliegenden Gründen für den Freelancer: So lange er in Vollzeit in einem Projekt ist braucht er sich zwar keine Sorgen zu machen, wenn es aber zu Ende geht (was mitunter recht unerwartet passieren kann) hat er ein Problem – seine einzige Geldquelle ist versiegt und bis sich die nächste auftut kann es dauern. Im schlimmsten Fall muss sogar für die Suche das alte Kontaktnetzwerk aufwändig reaktiviert werden, da der Fulltime-Job keinen Platz für die Beziehungspflege gelassen hat. Wie viel besser steht man da wenn man mehrere Kunden hat – es fällt immer nur ein Teil des Einkommens weg, außerdem war man auch bereits vorher in der Lage die Netzwerke in verschiedenen Firmen gleichzeitig zu pflegen. Die Suche nach dem nächsten Job wird dadurch einfacher.
Etwas weniger offensichtlich ist das Ganze im Fall des Projektbetreibers. Warum soll der etwas davon haben, dass er „seinen“ Freelancer nur für 10 oder 15 Tage im Monat bekommt? Würde in 20 Tagen nicht wesentlich mehr Arbeit erledigt werden? Natürlich, das wäre so, allerdings ist das lediglich eine sehr verkürzte Sicht der Dinge. Wer sich einen externen Mitarbeiter ins Haus holt, bekommt nämlich nicht nur dessen Arbeitskraft, er bekommt auch einen frischen Blick auf das eigene Unternehmen. Wie schneiden die eigenen Prozesse ab, wenn man sie mit denen in anderen Firmen vergleicht? Wie die eigene Architektur, die eigenen Sicherheitsstandards oder die Qualifikation der eigenen Festangestellten? Das alles kann natürlich vor allem jemand beurteilen, der auch andere Unternehmen kennt.
Aber – muss man dafür wirklich zur selben Zeit bei mehreren Firmen sein? Reicht es nicht, dass man vorher bei einem anderen Unternehmen war und davor bei noch einem anderen? Auch hier würde ich sagen, dass das eine sehr verkürzte Sicht der Dinge ist. Natürlich sind die Erfahrungen der Vergangenheit wertvoll, sie helfen aber nur bis zu einem gewissen Grad dagegen, dass man erschreckend schnell die Betriebsblindheit des aktuellen Kunden übernehmen kann. Gerade bei größeren IT-Projekten, die Monate oder sogar Jahre dauern können, gerät „die Welt da draußen“ schnell aus dem Blick. Fehlentwicklungen im eigenen Umfeld erscheinen zu Beginn nicht so schwerwiegend zu sein, man geht Kompromisse ein die man nicht mehr hinterfragt oder gewöhnt sich schlicht daran, dass manche Dinge etwas umständlich oder ineffizient sind.
Dieses Schmoren im eigenen Saft kann verhindert werden, wenn man regelmäßig in anderen Kontexten unterwegs ist. Warum sind bei Kunde Zwei bestimmte Prozesse ganz anders als bei Kunde Eins, obwohl der meint, dass sie im Moment State of the Art wären? Und warum hat sich Kunde Drei gerade komplett von einem Architektur-Grundsatz verabschiedet, von dessen Einführung sich Kunde Zwei die Lösung vieler Probleme verspricht? Wer dauerhaft solche Vergleichswerte haben will, kann nicht nur für ein Projekt tätig sein. Er braucht mindestens ein zweites, nur dann kann er Dinge im Kontext sehen.
Beim Auseinandersetzen mit dem Projektbetreiber kann dieses konstante Erneuern externer Erfahrungen ein starkes Argument sein, wenn wieder mal der Wunsch aufkommt doch fünf Tage die Woche zur Verfügung zu stehen. Das heißt zwar nicht, dass er seinen Standpunkt ändert, aber selbst wenn er das nicht tut – auch die Erkenntnis in einem Umfeld zu arbeiten, in dem externer Input als vernachlässigbar angesehen wird, ist eine interessante Information. Vielleicht eine die den Anstoß dazu gibt, sich nach anderen Jobs umzusehen. Und wer weiß, vielleicht zahlen sich jetzt die Kontakte zu den Kunden Nummer Zwei und Nummer Drei aus, die man in letzter Zeit aufgebaut hat.

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Felix Stein ist Consultant bei der DomusAurea Consulting, einer Unternehmensberatung aus Bonn mit den Schwerpunkten Strategieentwicklung, agiles IT-Projektmanagement (v.a. Scrum) und Test-/Qualitätsmanagement. Wenn er nicht gerade auf Projekten unterwegs ist veröffentlicht er seine Einsichten und Ansichten auf seinem Blog.

Ein Kommentar

  1. Hallo,
    genau richtig.
    1. Keine neuen Projekte während der Zeit möglich
    2. Das wurde hier vergessen: Die Gefahr der Scheinselbstständigkeit und das für beide Seiten.
    Ich gehe mittlerweile soweit und stelle unmissverständlich klar, dass ich nicht nur für einen Kunden arbeite und schon garnicht „Remote“ (was ein blödes Wort).
    Wenn das Unternehmen nicht drauf eingeht, dann kann es mir gestohlen bleiben.
    Begründen tu ich es nicht mehr.
    Gruß Jürgen A. Becker

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